Aktienbewertung - Der Einstieg
- Dr. Reto Rauschenberger

- 26. Okt.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Okt.

Wie man eine Aktie bewertet
Die meisten reden über Aktienkurse, wenige verstehen Aktienbewertungen. Jeder zweite Anleger sagt Sätze wie: „Die Aktie ist günstig“ oder „Das KGV ist tief“ – aber wenn du dann fragst, warum, wird es schnell still. Zeit also, einmal gründlich aufzuräumen. Heute zeige ich dir die Methoden, wie man eine Aktie wirklich bewertet.
Was eine Aktie überhaupt ist
Bevor wir über Bewertung reden, müssen wir kurz klären, was du da eigentlich kaufst. Eine Aktie ist ein Anteil an einem Unternehmen. Wenn du also eine Nestlé-Aktie kaufst, gehört dir ein winziger Teil von Nestlé. Das bedeutet, du hast Anspruch auf Gewinne (Dividende) und auf den Unternehmenswert.
Das Ziel ist also nicht, die Aktie „billig“ zu kaufen, sondern einen fairen Preis für ein gutes Unternehmen zu zahlen Und genau das ist der Kern jeder Aktienbewertung: Wie viel ist das Unternehmen wirklich wert und wie viel zahle ich heute dafür?
Der innere Wert – die Essenz jeder Bewertung
Wenn du eine Aktie bewertest, willst du den sogenannten inneren Wert bestimmen. Das ist der theoretische Wert des Unternehmens, basierend auf seinen zukünftigen Gewinnen. Der Preis einer Aktie ist der Aktienkurs, den du bezahlst. Das klingt kompliziert, ist aber eigentlich simpel. Eine Firma ist so viel wert, wie sie in Zukunft verdient und dies abgezinst auf den heutigen Zeitpunkt. Warum wird abgezinst? Weil ein Franken morgen weniger wert ist als heute. Dies hat mit Inflation und Risiko zu tun.
Das ist der Gedanke hinter dem Discounted Cash Flow (DCF)-Modell. Viele Profis wenden genau dieses Modell an, aber viele Privatanleger scheitern daran, weil sie zu optimistisch rechnen oder keine Ahnung haben, wie man Cashflows schätzt.
Die drei Hauptmethoden zur Aktienbewertung
Es gibt unzählige Theorien, Modelle und Excel-Sheets. Aber am Ende läuft alles auf drei Grundprinzipien hinaus:
Multiplikatoren z. B. Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV)
Discounted Cash Flow (DCF)
Substanzwert (der wird hier nicht behandelt)
Lass uns das kurz auseinandernehmen.
Multiplikatoren: Der schnelle Reality-Check
Das ist die schnellste und am meisten genutzte Methode. Du vergleichst eine Aktie mit ähnlichen Firmen und schaust, ob sie „teuer“ oder „günstig“ bewertet ist. Das bekannteste Verhältnis ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV).
KGV = Aktienkurs / Gewinn pro Aktie
Beispiel: Wenn die Aktie CHF 100 kostet und die Firma CHF 10 Gewinn pro Aktie macht, liegt das KGV bei 10. Du zahlst das 10-Fache des Jahresgewinns.
Klingt einfach – aber Vorsicht vor Missinterpretation. Ein tiefes KGV heisst nicht automatisch „billig“. Wenn das Unternehmen schrumpft oder hohe Schulden hat, ist das tiefe KGV oft gerechtfertigt. Ein KGV von 30 kann aber durchaus fair sein, wenn das Unternehmen stark wächst (siehe: Apple, Microsoft, Nvidia).
Merke: Das KGV sagt nichts über Qualität aus – nur über Erwartungen. Neben dem KGV gibt’s noch andere Multiples:
KUV (Kurs-Umsatz-Verhältnis): nützlich bei Firmen, die noch keinen Gewinn machen (z. B. Start-ups).
KBV (Kurs-Buchwert-Verhältnis): interessant bei Banken oder Industrieunternehmen.
EV/EBITDA: das Lieblingsverhältnis der Profis, weil es Schulden und Cash berücksichtigt.
In der Praxis machst du folgendes. Du vergleichst z. B. Logitech mit ähnlichen Tech-Firmen und schaust, ob sie im Schnitt teurer oder günstiger ist. So bekommst du ein Gefühl, ob der Markt übertreibt oder untertreibt.
Discounted Cash Flow (DCF): Der Blick in die Zukunft
Das DCF-Modell ist das, was Analysten bei Banken oder im Corporate Finance Bereich im Schlaf können. Hier geht’s darum, den zukünftigen Cashflow der Firma zu schätzen und diesen auf heute abzuzinsen.
Klingt kompliziert, ist aber pure Logik: Ein Franken in der Zukunft ist weniger wert als ein Franken heute – wegen Inflation, Risiko und Opportunitätskosten.
Du brauchst dafür:
Prognosen der Cashflows
Einen Diskontsatz (z. B. WACC – Weighted Average Cost of Capital) = risikogerechten Zins
Rechnest du das alles zusammen, bekommst du den fairen Wert der Aktie. Liegt der aktuelle Kurs darunter, ist sie potenziell unterbewertet. Liegt er deutlich darüber, ist sie überbewertet.
Kaum ein Privatanleger rechnet das exakt durch. Wichtiger ist, dass du das Prinzip verstehst. Eine Aktie ist nur so viel wert, wie sie in Zukunft an Cash produziert.
Oder, wie Warren Buffett sagt: "Preis ist, was du zahlst. Wert ist, was du bekommst.“
Die qualitative Bewertung – Zahlen sind nicht alles
Viele machen hier den Fehler, dass sie mit Excel-Tabellen rechnen, aber das Business nicht verstehen.
Zahlen zeigen, was war. Doch was zählt, ist was kommt. Darum musst du auch die qualitative Seite einer Firma verstehen:
Geschäftsmodell: Wie verdient das Unternehmen Geld?
Burggraben (Moat): Was schützt es vor der Konkurrenz?
Management: Wer führt den Laden – und wie gut?
Wachstumschancen: Neue Märkte? Innovation? Skalierbarkeit?
Risiken: Regulierung, Zinsen, Abhängigkeit von Kunden oder Rohstoffen?
Schau dir z. B. Nvidia an. Jeder redet über KGV und Umsatz, aber das Entscheidende ist: Nvidia besitzt zurzeit ein Monopol auf GPU-Technologie, das in KI-Rechenzentren Standard ist. Das ist ihr Burggraben – nicht das aktuelle KGV.
Oder Novartis: Viele sagen, das sei eine langweilige Aktie. Aber langweilig ist hier gleichbedeutend mit verlässlich. Die Firma verdient seit Jahrzehnten stabil Cash – egal, ob bei Inflation, Krieg oder Pandemie.
Bewertung ist keine Punktlandung – sondern eine Bandbreite
Es gibt nicht den einen „richtigen“ Wert. Kein Analyst dieser Welt kann exakt sagen, was eine Aktie „wert“ ist. Aber du kannst eine realistische Spanne bestimmen – und das ist viel wert.
Beispiel: Du rechnest und kommst auf einen fairen Wert zwischen 80 und 100 Franken. Wenn die Aktie bei CHF 60 steht, ist das attraktiv. Wenn sie bei CHF 120 steht, eher nicht.
Das ist der Denkfehler vieler Anfänger. Sie suchen die perfekte Zahl – statt zu akzeptieren, dass Bewertung immer mit Unsicherheit zu tun hat.
Darum bewerten Profis konservativ. Lieber etwas zu vorsichtig und dafür mit Sicherheitsmarge kaufen.
Praktisches Vorgehen – Schritt für Schritt
Wenn du das nächste Mal eine Aktie analysierst, gehe so vor:
Verstehe das Geschäft. Was macht die Firma, wie verdient sie Geld, was ist ihr Vorteil?
Schau auf die Finanzkennzahlen. Umsatz, Gewinn, Cashflow, Schulden, Margen. Achte auf Trends – wächst oder schrumpft sie?
Rechne mit Multiples. KGV, KUV, EV/EBITDA im Branchenvergleich.
Mach eine grobe DCF-Schätzung. Keine Doktorarbeit – einfach: Wie viel Cash könnte sie produzieren? Wie stark wächst das?
Bewerte das Risiko. Zyklisch oder defensiv? Abhängigkeit von Rohstoffen, Regulierung, Zinsen?
Definiere eine Spanne. Was ist fair, was wäre günstig, was teuer?
Entscheide rational. Wenn der Preis klar unter deinem fairen Wert liegt – kaufen. Wenn er klar drüber liegt – Finger weg oder verkaufen.
Psychologie: Der unterschätzte Teil der Bewertung
Die beste Bewertung bringt nichts, wenn du emotional handelst. Viele kaufen, wenn alle euphorisch sind und verkaufen, wenn Panik herrscht.
Doch die besten Investoren sind konträr. Sie kaufen, wenn andere Angst haben, und sie halten, wenn der Markt verrückt spielt.
Darum: Bewertung ist auch Psychologie. Wenn du eine Aktie verstehst und ihren Wert kennst, bleibst du ruhig – egal, was CNBC oder Blick schreiben.
Beispiel: Bewertung von Microsoft (Stand 2025)
Microsoft verdient aktuell rund 100 Mrd. USD Gewinn pro Jahr. Bei einer Marktkapitalisierung von ca. 3.8 Billionen USD ergibt das ein KGV von rund 38.
Klingt teuer? Nicht unbedingt. Microsoft wächst im Cloud-Bereich stark, hat eine brutale Marktposition (Azure, Office, KI-Integration) und massiven Cashflow.
Der faire Wert – je nach Annahme – liegt zwischen 450 und 550 USD pro Aktie (UBS sieht ihn bei USD 650). Aktuell notiert sie bei rund 523 USD – also fair bewertet, nicht billig, aber auch kein Wahnsinn.
Wer langfristig denkt, kann solche Aktien trotzdem halten, weil Qualität langfristig gewinnt.
Fazit: Bewertung ist kein Hexenwerk
Viele reden sich ein, sie könnten das nicht. Aber Aktienbewertung ist kein Zauber – es ist gesunder Menschenverstand plus etwas Rechnen.
Verstehe, was du kaufst. Überlege, was das Unternehmen in Zukunft verdienen kann. Zahle einen vernünftigen Preis. Das ist alles.
Ob du Excel nutzt, eine App oder einfach deinen Kopf entscheidend ist, dass du ein Gefühl für Wert entwickelst. Dann fängst du an, in Unternehmen zu investieren und nicht in Aktienkurse.
Und wenn du das einmal verstanden hast, wirst du nie mehr sagen: „Ich hoffe, die Aktie steigt", sondern:„Ich weiss, was sie wert ist und ich weiss, warum ich sie halte.“
Kurz gesagt:
Eine Aktie ist ein Unternehmensanteil, kein Lotterielos.
Es gibt keinen exakten Wert, nur eine faire Spanne.
Zahlen sind wichtig, aber das Geschäftsmodell ist wichtiger.
Bewertung schützt dich vor Übertreibung und Panik.
Und am Ende gilt: Geduld schlägt Timing. Immer.
In unserem Kurs: "Aktienanalyse" zeigen wir Dir "hands-on" wie du Aktien gezielt auswählst.



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